10.06.2009

Die Zeit - "Im Rausch"

Pressestimmen

Ein eisiger Wind weht über Keitum, als Christian Ress die jungen Rebstöcke in seinem neuen ... - ja, was denn eigentlich? - vergräbt. In seinem Weinberg, möchte man sagen. Es kommt einem kein besseres Wort in den Sinn, weil in Deutschland fast alle Trauben in Schräglagen wachsen; sie brauchen ja so viel Sonne. Aber hier ist kein Berg, kein Hang, kein Hügel - so etwas gibt es auf Sylt nun mal nicht.

Das Weinfeld also liegt zwischen Reetdachhäusern und einer Landstraße. An seinem Rand stehen zwei Strandkörbe. Ein paar Schritte weiter beginnt schon das Watt. Der Grund lag über Jahrzehnte brach. Der Besitzer hielt hier ein paar Pferde. >>Damit es nicht so öde aussah.<< Landwirtschaft hätte nicht gelohnt, und bauen durfte er nicht. Nun hat er an Ress verpachtet und verfolgt amüsiert, wie vor seinem Fenster ein Unikum heranwächst: Deutschlands nördlichster Wein.

Damit wäre eine weitere Gewissheit des deutschen Weinbaus erschüttert. Denn ebenso selbstverständlich, wie man Rebstöcken die sonnigsten Hänge gab, pflanzte man sie im Norden überhaupt nicht. In jedem Fachbuch ist nachzulesen, dass quer durch Deutschland eine Grenze verlaufe, jenseits derer Trauben nicht mehr gedeihten. Nur wo genau sie verlaufen soll, das hängt davon ab, wie alt das Buch ist. 50. Breitengrad, das war einst die Faustregel, also etwa die Höhe von Koblenz. Die ausgezeichneten Weine der Saale oder Ahr fielen schon nicht mehr darunter. Also wurde nachgebessert: 52. Grad - Münster. Aber selbst diese Grenze könnte bald fallen. >>55°<< soll der Wein aus Keitum heißen - das ist der Breitengrad von Sylt.

Christian Ress ist kein rekordversessener Hobbywinzer wie die meisten, die im Norden mit Weinbau ihr Glück versuchen. Der 35-jährige leitet gemeinsam mit seinem Vater das angesehene Weingut Balthasar Ress in Hattenheim (am 50. Breitengrad). >>Unsere Mondmission<< nennt er die Expansion nach Sylt. Fünfeinhalb Tonnen Gerätschaft hat er dafür aus dem Rheingau mitgebracht - und ein fünfzigseitiges önologisches Gutachten. Da steht viel von >>Risiko<< und >>problematisch<<, aber eben auch, es sei möglich.

Warum gerade hier? >>Sylt ist ein wichtiger Markt für uns<<, sagt Ress, >>viele potenzielle Kunden auf kleinstem Raum.<< Einige sind an diesem Nachmittag zusammengekommen, um den Fortschritt der Mission zu verfolgen: Gastronomen, Weinhändler - und Pächter. Für 269 bis 499 Euro kann man nämlich Pate eines Rebstocks werden. Ist das nicht ein bisschen viel Geld für ein graviertes Namensschild am Rebstock und eine Flasche Keitumer Landwein pro Jahr? Schulterzucken, Lächeln bei den Pächtern. Es sei halt so eine schöne Idee, ein ideales Geschenk für Leute, die schon alles haben. >>Die Pachten gehen weg wie warme Semmel<<, sagt Christian Ress. Er ist selbst überrascht.

Seine Mitarbeiter bearbeiten den kleinen Acker mit archaischen gusseisernen Werkzeugen. Ein mühsames Geschäft; aber für 1600 Rebstöcke lohnte es nicht, die großen Maschinen aus dem Rheingau zu holen. Reihe um Reihe versenken sie die Reben in der sandigen Erde. Es handelt sich vornehmlich um eine Rebart namens Solaris. Solaris ist kein zartes Pflänzchen, auch wenn die Stöcke mit dem schützenden Wachsüberzug jetzt noch so wirken. Die Sorte wurde auf Frühreife und Robustheit gezüchtet. Sie bringt selbst in Skandinavien trinkbare Weine hervor. Der Geschmack wird wohlwollend als >>fruchtig<< beschrieben. Ress hat noch keine Erfahrungen damit. >>Im Rheingau pflanzen wir Riesling. Aber der hätte hier keine Chance.<<

Die Pächter und Gastronomenleeren auf den Erfolg des Unternehmens rasch ein Glas von diesem Riesling und machen sich dann auf den Heimweg. Für einen gemütlichen Umtrunk ist es noch zu kalt. Sie bekommen zum Abschied eine Urkunde. Darauf steht: >>Ich war dabei<<.

Die Sonne scheint freundlich auf Deutschlands flachsten Weinberg. Und das wird sie wohl weiter tun. So steht es zumindest im Gutachten: >>Die zu beobachtende Klimaveränderung führt bei den betrachteten Flächen zu einer Verringerung des Anbaurisikos.<< Dass der Wein immer weiter nach Norden gelangt, ist weniger ein Triumph der Technik als eine Folge des Klimawandels. >>Schon möglich<<, sagt Ress, >> das in 50 Jahren Schleswig-Holstein ein anerkanntes Weinbaugebiet ist.<<

Schon im Mittelalter, als es sehr warm war, wurden in Norddeutschland Trauben gepflanzt. Damals waren aber auch die Ansprüche geringer. Schmeckte der Wein nicht, half man mit Gewürzen nach. Wie lange sich die Sylter die Erderwärmung schöntrinken können, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Wenn der Meeresspiegel steigt, könnte die Nordsee den Keitumer Reben bedenklich nahe rücken. Aber wer weiß? Wein mit einer Prise Meersalz, das war schon in der Antike ein beliebtes Getränk.