10.01.2006
Trauben wie Fruchtbonbons - Eiswein wird bei Frost gelesen
Pressestimmen
Stefan Ress und sein Sohn Christian sind seit einer halben Stunde in ihrem Weinberg. Das Thermometer zeigt minus 5 Grad, der Schnee zwischen den Rebzeilen knirscht, Flöckchen tanzen in der schwarzen Nacht. Laut Vorhersage sollten jetzt die Sterne funkeln. Aber die Wolkendecke will nicht aufreißen. Das ist nicht gut, denn so wird es wohl kaum den erwarteten tiefen Frost geben. Nur deswegen sind Stefan Ress und sein Sohn Christian schon so früh auf den Beinen. Die beiden Winzer aus dem Rheingau-Ort Hattenheim wollen nämlich Eiswein lesen. Jetzt fragen sie sich, ob es dafür kalt genug ist.
Stefan Ress greift unter die Folie, die sich über die ganze Rebzeile spannt. Seine Fingerspitzen prüfen die Beeren, die jetzt so braun und runzlig sind wie Rosinen und schmecken wie kandiert: Sind sie ganz durchgefroren, wie es das Weingesetz verlangt? Manche sind hart wie Fruchtbonbons, andere geben etwas nach aber haben sie überhaupt noch genug Wasser unter der Schale, das vereisen könnte? Der Winzer weiß es nicht. Er weiß nur: «Die Zeit läuft uns davon.»
Eiswein ist eine rare und teure Spezialität des deutschen Weinbaus. Er genießt weltweiten Ruf, die halbe Flasche kann schon mal mit über 100 Euro in der Preisliste stehen. Dafür erhält der Käufer im wörtlichen Sinne «unverwässerten» Geschmack. Denn was die Trauben an Wasser enthalten, bleibt als Eis in der Kelter zurück; heraus läuft nur ein Extrakt aus Zucker, Fruchtsäuren und Aromastoffen - vorausgesetzt, die Trauben sind komplett durchgefroren. «Bei der Kontrolle müssen gesunde Beeren so hart sein, dass sie nicht zwischen zwei Fingern zerdrückt werden können», heißt es in einem Merkblatt der rheinland-pfälzischen Lehr- und Versuchsanstalt Oppenheim.
Dazu braucht es schon einige Minusgrade, denn der Zucker in den Beeren wirkt wie ein natürliches Frostschutzmittel. Einer verbreiteten Faustregel zu Folge müssen mindestens 7 Grad minus herrschen. Im Hattenheimer «Engelmannsberg» aber will die Temperatur an diesem Morgen nicht unter minus 5 Grad sinken. Bald wird die Sonne aufgehen. Stefan Ress überlegt: Soll er die Lese abblasen - in der vagen Hoffnung auf tieferen Frost in ein bis zwei Wochen, aber mit der Gewissheit, dass die Trauben mit jedem Tag mehr von ihrer Säure verlieren, die für Eiswein so charakteristisch ist?
Natürlich kennt der Winzer die 7-Grad-Regel. Doch er weiß auch, dass sie für den Idealfall des Eisweins gilt - für reife, aber noch grüne Beeren, die ein früher Frost packt. In diesem Jahr aber ist im Rheingau alles anders: Einem trockenen August folgten im September heftige Regengüsse, die durstigen Beeren sogen sich blitzschnell voll, so dass sich in den Schalen feine Risse bildeten. «Das war die Eintrittsöffnung für Botrytis», sagt Andreas Booß vom Eltviller Weinbauamt.
Unter seinem appetitlicherem Namen «Edelfäule» ist Botrytis in Weinbergen durchaus ein gern gesehener Gast. Er macht die Fruchthäute porös, so dass Wasser verdunstet und sich die Inhaltsstoffe konzentrieren. Gleichzeitig baut er Säure ab und erzeugt einen eigenen, ziemlich prägnanten Honigton. Im Extremfall entstehen dabei die «Trockenbeerenauslesen», die in punkto Süße dem Eiswein gewiss nicht nachstehen. Ihnen fehlt aber dessen frische Fruchtigkeit. Im ungewöhnlich warmen Frühherbst breitete sich die Edelfäule im Rheingau rasch aus. Manch ein Winzer mochte deshalb gar nicht mehr auf Eiswein setzen. Auch im Weingut Ress war man vorsichtig und ließ nur vier Rebzeilen hängen - ein Drittel der üblichen Menge.
Während der Senior-Chef noch überlegt, sammeln sich unten vor der Kellerei die Lesehelfer in Thermojacken, Wollmützen und gefütterten Schuhen. Um diese Jahreszeit, wenn die eigentliche Ernte längst vorüber ist, sind die meisten Mitarbeiter in Urlaub. Außendienstleiter Enzo Mancuso hat sogar Tochter und Schwiegersohn mitgebracht, die über Weihnachten aus Sizilien gekommen sind. Man wartet und atmet Wölkchen.